Goethe ruft an by Düffel John von

Goethe ruft an by Düffel John von

Autor:Düffel, John von [Düffel, John von]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-8321-8568-8
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2014-10-10T22:00:00+00:00


6 Der zweite Tag

Es klinge sicher seltsam hier draußen im Grünen unter diesem weißen Baldachin aus Segeltuch, und diese Runde sei vielleicht gar nicht der rechte Ort für sein Thema, »Einzelthema«, wie es so schön heiße und noch dazu so wahr in seinem Fall, denn einzelner als mit dieser Geschichte könne man sich gar nicht fühlen, ganz gleich in welchem Kreis, aber es sei nun einmal sein Thema, er habe es sich nicht ausgesucht, so wie man sich seine Geschichten vermutlich nie aussuchen könne, sondern nur die Wahl habe, sie zu erzählen oder zu schweigen …

Wann und wie das angefangen habe, wisse er nicht, er könne nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es angefangen habe oder nicht vielmehr immer schon dagewesen, immer schon vor sich gegangen sei, wobei er sich bis heute frage, wie er die ganze Zeit nur so blind habe sein können, es nicht zu sehen oder eben doch zu sehen, aber nicht zu erkennen, jedenfalls sei er eines Morgens aufgewacht, habe sich angezogen, seinen Kaffee getrunken wie eh und je, nur dass er auf einmal – oder eben nicht auf einmal, sondern vielmehr allmählich – das Gefühl gehabt habe, dass irgendetwas nicht stimme, ganz und gar nicht stimme, dabei sei eigentlich alles gewesen wie immer, der Kaffee ein bisschen zu dünn, sein Anzug ein bisschen zu weit, die Zeit ein bisschen zu knapp wie jeden Morgen, er sei schon auf dem Weg zur Tür gewesen und habe nur noch einmal im Vorbeigehen, wie stets, einen kurzen Kontrollblick in den Spiegel geworfen, als er nicht länger habe darüber hinwegsehen können, dass irgendetwas an diesem Bild, seinem Spiegelbild und somit an ihm fundamental nicht in Ordnung sei, ohne dass er in der Lage gewesen wäre zu sagen, was, bis ihm bei näherem Hinsehen dieser eine Zentimeter ins Auge gesprungen sei, diese Lücke zwischen ihm und den Dingen, zwischen Hals und Hemdkragen, Hut und Haar, Brillenrand und Augenbraue – überall dieser eine Zentimeter, ob ihnen das nie aufgefallen sei?

Wie auch immer, er könne nur sagen, dass dieser Zentimeter, auch wenn er in den Augen anderer Leute vielleicht vernachlässigbar wirke, für ihn etwas zutiefst Klaffendes gehabt habe, ja, nicht die Entfernung oder Fuge als solche, sondern das Klaffen dieses Zentimeters sei das eigentlich Beunruhigende seiner Entdeckung gewesen, sonst hätte er sich womöglich auch auf den Standpunkt gestellt, ein Zentimeter mehr oder weniger, darauf komme es doch nicht an, aber dieser Zentimeter sei so abgründig gewesen, als würde er sämtliche Entfernungen enthalten.

Nun gut, das gebe sich, das gehe vorbei, habe er sich gesagt, er werde ganz normal seiner Arbeit nachgehen und eine Nacht darüber schlafen, ohne sich verrückt zu machen, was er dann auch getan habe, mehr schlecht als recht, doch am nächsten Morgen sei eben nicht alles wieder gut gewesen, falls es überhaupt jemals gut gewesen sei, im Gegenteil, der Zentimeter sei eher größer als kleiner geworden, habe sichtlich zugenommen und sich bis auf elf oder elfeinhalb Millimeter ausgedehnt, weshalb er nicht einfach so habe weitermachen können wie bisher, sondern gezwungen



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